Archimedesche Körper

Motivation

Ein Platonischer (oder Regulärer) Körper (Tetra-, Okta-, Dodeka- und Ikosaeder sowie Hexaeder=Würfel) ist dadurch definiert, daß alle seine Seitenflächen (Facetten), Kanten und Ecken jeweils zueinander äquivalent sind, sich also durch eine Kombination von Translationen, Rotationen und Reflektionen ineinander überführen lassen. Die Facetten müssen daher bei einem solchen Körper identische reguläre Polygone sein. Alle Kanten sind gleich lang, die Flächen gleich groß, und alle Winkel an den entsprechenden Positionen sind identisch. Alles ist gleich - schön, aber etwas langweilig. Interessanter wird es, wenn man verschiedene reguläre Polygone als Facetten eines Körpers zuläßt: gibt es solche Körper, und kann man daraus einige von besonderer Regelmäßigkeit auswählen?

Existenz und Konstruktion

Ja, es gibt solche Körper. Man nehme zum Beispiel einen Platonischen Körper, markiere die Mittelpunkte der Kanten, verbinde sie derart, daß sie jeweils eine Ecke umlaufen, und schneide die Ecke entlang dieses Polygons (das naturgemäß regulär ist) ab; was kommt dabei für ein Körper heraus?

Wenn man einen Tetraeder in der oben beschriebenen Weise zurechtstutzt, resultiert ein Oktaeder; die vier abgeschnittenen Ecken bilden wieder Tetraeder.

Wird der Oktaeder wieder derart gestutzt, kommt etwas Neues dabei heraus. Die abgeschnittenen Ecken sind keine Tetraeder, sondern Vierecks-Pyramiden: die Basis, die gleichzeitig das Gegenstück zu einer der Facetten des Rest-Körpers darstellt, ist ein Quadrat, die Flanken sind reguläre Dreiecke. Von der ursprünglichen Oktaeder-Seite bleibt ein Dreieck übrig. Der Rest-Körper hat also sowohl reguläre Dreiecke als auch reguläre Vierecke (Quadrate) als Facetten. In jedem Eckpunkt treffen sich vier davon: abwechselnd Drei- und Viereck, stets in gleicher Art. Dies ist ein spezieller Archimedescher Körper.

Eckenbeschreibung

Archimedesche Körper sind dadurch spezifiziert, daß alle ihre Ecken in gleicher Weise von (möglicherweise verschiedenen) regulären Polygonen gebildet werden. Beginnt man bei der Beschreibung einer Ecke mit einer möglichst langen Folge von kleinsten Polygonen (klein meint dabei wenig Kanten), so hat z.B. jede Ecke des Würfels die Beschreibung (4,4,4): an dieser Ecke stoßen 3 Quadrate (=reguläre 4-Ecke) aneinander. Die Ecken eines Tetraeders haben die Beschreibung (3,3,3), die eines Ikosaeders (3,3,3,3,3). Welche Beschreibung hat nun der gestutzte Oktaeder? (3,4,3,4); dieser Körper wird auch Kuboktaeder genannt. Die Kanten der Drei- und Vierecke sind alle gleich lang, und alle Ecken haben dieselbe Beschreibung. (Zwischenfrage: Gibt es einen derart regelmäßigen Körper mit der Ecken-Beschreibung (3,3,4,4)? (Antwort))

Bemerkenswert ist, daß das Stutzen eines Würfels auf den gleichen Archimedeschen Körper führt. Dabei sind die Rollen von Rest-Facette und abgeschnittener Ecke vertauscht: die abgeschnittenen Ecken sind Dreiecks-Pyramiden mit regulärer Dreiecks-Basis und rechtwinkligen Dreiecks-Flanken, während die Reste der Würfel-Facetten Quadrate sind. Einen ähnlichen Zusammenhang gibt es zwischen Dodekaeder (5,5,5) und Ikosaeder (3,3,3,3,3): beide werden durch das 'Halb-Kanten-Stutzen' in den Ikosidodekaeder (3,5,3,5) überführt.

Gibt es noch mehr Archimedesche Körper? Allerdings, sogar unendlich viele; das allerdings nur, weil es zwei einfache Klassen mit unendlich vielen Kandidaten gibt: Prismen und Antiprismen.
Ein Prisma entsteht, wenn man an den Kanten eines beliebigen regulären Polygons Quadrate anbringt und diese senkrecht aufrichtet. Die gegenüber liegenden Seiten der Quadrate bilden, wenn benachbarte Quadrat-Kanten zusammengefügt wurden, das gleiche reguläre Polygon wie das ursprüngliche, nur parallel nach oben verschoben. Die Prismen haben demnach die Eckenbeschreibung (4,4,n) (für n>3, n die Kantenzahl des Ausgangs-Polygons) bzw. (3,4,4). Der Würfel ist somit ein spezielles Prisma mit n=4. Als Beispiele sind hier Tri-Prisma (3,4,4) und Hexa-Prisma (4,4,6) gezeigt.
Ein Antiprisma entsteht ähnlich, nur werden nicht Quadrate, sondern Dreiecke an das ursprüngliche reguläre Polygon angefügt und (beinahe) senkrecht aufgerichtet. Wenn man zwischen je zwei der aufgerichteten Dreiecke ein weiteres reguläres Dreieck mit der Spitze voraus einfügt, bilden die oben liegenden Kanten wieder ein reguläres Polygon, gleich dem ursprünglichen, aber leicht (um 180°/n) verdreht. Die Eckenbeschreibung lautet dann (3,3,3,n). Wir erkennen daran, daß das Oktaeder ein spezielles Antiprisma (n=3) ist. Als Beispiele sind hier Tetra-Antiprisma (3,3,3,4) und Hexa-Antiprisma (3,3,3,6) gezeigt. Bei den Antiprismen macht sogar ein entartetes Exemplar Sinn: das Di-Antiprisma (3,3,3) (n=2, Basis-Polygon ist also eine Kante) ist besser bekannt als Tetraeder.

Gibt es weitere allgemeine Konstruktionsweisen? Sicher, die erste davon diente hier zur Einleitung: Halbieren der Kanten eines Platonischen Körpers. Da ein Platonischer Körper stets gleiche reguläre Facetten hat, sind die resultierenden Kanten alle gleich lang und bilden selbst ein reguläres Polygon. Die resultierenden Archimedeschen Körper sind:

Platonischer Körper(Eckenbeschreibung) Archimedescher Körper(Eckenbeschreibung)
Tetraeder(3,3,3) Oktaeder(3,3,3,3)
Oktaeder(3,3,3,3) Kuboktaeder(3,4,3,4)
Hexaeder (= Würfel)(4,4,4) Kuboktaeder(3,4,3,4)
Dodekaeder(5,5,5) Ikosidodekaeder(3,5,3,5)
Ikosaeder(3,3,3,3,3) Ikosidodekaeder(3,5,3,5)

Beim 'Halb-Kanten-Stutzen' entsteht aus Dodeka- bzw. Ikosaeder tatsächlich der gleiche Archimedesche Körper. Bei der ersten Variante sind die Fünfecke des Produkts Reste der ursprünglichen Dodeka-Facetten, und die resultierenden Dreiecke entstehen durch das Abschneiden der Ecken. Bei der zweiten Variante entstehen die Fünfecke als Ecken-Abschnitte, während die Dreiecke Facetten-Reste sind.

Kann man dieses Konstruktionsprinzip verallgemeinern? Vielleicht, indem man Archimedesche Körper derart behandelt? Im allgemeinen geht das nicht: die Kanten der Archimedeschen Körper sind zwar alle gleich lang, aber die an den Ecken eingeschlossenen Winkel sind i.a. verschieden, wodurch die Kanten der 'abgeschnittenen' Polygone verschieden lang werden.

Aber man muß die Kanten des Platonischen Körpers nicht unbedingt halbieren; dreiteilen geht auch. Allerdings sind nur bei den Dreiecks-basierten Platonischen Körpern alle drei Kanten-Teile gleich lang; beim Würfel und beim Dodekaeder muß der mittlere Teil länger sein als die beiden gleich langen äußeren Teile. Warum? - Die Schnitt-Kanten der 'abgeschnittenen Ecken' sollen alle gleich lang sein. Bei einem regulären Dreieck bildet der Drittel-Schnitt drei reguläre Dreiecke in den Ecken und ein reguläres Sechseck in der Mitte. Ist ein reguläres Vier- oder Fünfeck die Ausgangsfläche, liefert der Drittel-Schnitt vier bzw. fünf Dreiecke, deren 'Schnitt'-Kante länger ist als die beiden anderen. Dennoch läßt sich das Prinzip anwenden; man muß nur den Kanten-Teilungs-Quotienten so ansetzen, daß alle Kanten des zentralen Polygons (ein 8- bzw. 10-Eck) gleich lang sind (Illustration).

Platonischer Körper(Eckenbeschreibung) Archimedescher Körper(Eckenbeschreibung)
Tetraeder(3,3,3) Stutz-Tetraeder(3,6,6)
Hexaeder(4,4,4) Stutz-Hexaeder(3,8,8)
Oktaeder(3,3,3,3) Stutz-Oktaeder(4,6,6)
Dodekaeder(5,5,5) Stutz-Dodekaeder(3,10,10)
Ikosaeder(3,3,3,3,3) Stutz-Ikosaeder(5,6,6)

Der letzte dieser Körper ist allgemein bekannt: der Fußball ist derart zusammengesetzt (vor der WM 2006).

Ein weiteres Konstruktionsprinzip besteht darin, sowohl Ecken als auch Kanten zu stutzen. Dazu werden zunächst die Kanten derart abgeschnitten, daß die Rest-Facetten regulär sind. An den Schnittpunkten der abgeschnittenen Kanten bildet sich eine unregelmäßige Ecke, die anschließend entfernt wird und ein weiteres reguläres Polygon hinterläßt.

Platonischer Körper(Eckenbeschreibung) Archimedescher Körper(Eckenbeschreibung)
Hexaeder(4,4,4) Klein-Rhombikuboktaeder(3,4,4,4)
Hexaeder(4,4,4) Gross-Rhombikuboktaeder(4,6,8)
Dodekaeder(5,5,5) Klein-Rhombikosidodekaeder(3,4,5,4)
Dodekaeder(5,5,5) Gross-Rhombikosidodekaeder(4,6,10)

Das letzte Konstruktionsprinzip ist komplizierter. Dabei werden die Facetten eines Basis-Polyeders (Hexa- oder Dodekaeder) derart geschrumpft und leicht rotiert, daß zwischen zwei benachbarte Schrumpf-Kanten zwei reguläre Dreiecke mit einer gemeinsamen Kante eingepasst werden können. Die gemeinsame Kante kann aus Sicht der Schrumpf-Facette rechts oder links des anliegenden Dreiecks liegen. Es gibt also von diesen Stumpf-Polyedern je zwei Varianten, die hier als links- bzw. rechtsdrehend bezeichnet werden.

Platonischer Körper(Eckenbeschreibung) Archimedescher Körper(Eckenbeschreibung)
Tetraeder(3,3,3) Ikosaeder(3,3,3,3,3)
Hexaeder(4,4,4) Stumpf-Hexaeder (L)&(R)(3,3,3,3,4)
Dodekaeder(5,5,5) Stumpf-Dodekaeder (L)&(R)(3,3,3,3,5)

An der Eckenbeschreibung erkennt man, daß der Ikosaeder (3,3,3,3,3) ein Spezialfall der Stumpf-Polyeder ist: er wird aus dem Tetraeder (3,3,3) gebildet. Auf diesem Wege ergibt sich auch eine Verwandtschaft zwischen den beiden großen Familien Hexa-Okta auf der einen und Ikosa-Dodeka auf der anderen Seite mit dem Tetraeder als Bindeglied: mit der Stumpf-Konstruktion gehört der Tetraeder zur Ikosa-Dodeka-Familie, mit dem Ecken-Stutz-Algorithmus hingegen zum Hexa-Okta-Clan.

Zwischenfrage: Warum gibt es keine Stumpf-Oktaeder und Stumpf-Ikosaeder?
Antwort: Die gibt es sehr wohl, aber sie werden nicht so genannt… Mehr dazu finden Sie im Film über das Stumpf- und Stutz-Morphen.

Bastelbögen

Eine Sammlung aller Bastelbögen der Archimedeschen und (als Spezialfälle) Platonischen Körper finden Sie im Menü Bastel. Prismen und Antiprismen sind hierbei durch je zwei Exemplare vertreten.

Grenzen der Konstruktion

Nicht alles, was reguläre Polygone als Facetten hat, ist deswegen schon 'archimedesch' oder sogar 'platonisch'. Selbst zusätzlich verlangte Konvexität (die geradlinige Verbindung zweier beliebiger Punkte des Körpers führt nicht aus dem Körper hinaus) reicht dafür nicht aus. Ein einfaches Gegenbeispiel erhält man, wenn man zwei Tetraeder an einer Facette zusammenklebt: das Resultat ist konvex, hat 6 gleichseitige Dreiecks-Facetten, 9 gleichlange Kanten und 5 Ecken, die aber zwei Beschreibungen haben: (3,3,3,3) an den Ecken, die zu den zusammengeklebten Facetten gehören, und (3,3,3) an den beiden 'Spitzen'. Ein solcher Körper ist nicht archimedesch, somit auch nicht platonisch. Genauso verhält es sich mit dem 'Pseudo-Kuboktaeder', der bei der Konstruktion eines (3,3,4,4)-Körpers entsteht (vergleiche Zwischenfrage 1) oder der Pyramide mit quadratischer Basis und gleichseitigen Dreiecks-Flanken, die zu Beginn beim 'Halb-Kanten-Stutzen' des Oktaeders erwähnt wurde.

Morphen Archimedescher Körper

Die obigen Erläuterungen zur Konstruktion der Archimedeschen Körper legen es nahe, diese Vorgänge bildhaft zu zeigen. Dazu wurden zwei Filme erstellt, die in drei verschiedenen Formaten geladen und angeschaut werden können. Der erste Film hat den Titel »Archimedesche Metamorphosen« und zeigt Verwandtschaften aller Archimedescher Körper. Der zweite Film mit dem Titel »Archimedesche Metamorphosen: Stumpf- und Stutz-Algorithmus« verwendet nur diese beiden Algorithmen, zeigt aber einige Zusammenhänge noch intensiver als der erste Film. Weitere Erläuterungen zum Thema »Morphen« finden Sie im Morph-Menü.

Darstellung

An dieser Stelle seien zwei Hintergrund-Informations-Seiten erwähnt:
  1. rotation.html beschäftigt sich mit der Frage, warum eine der Szenen in den Morph-Filmen nicht morpht, sondern nur rotiert.
  2. projektion.html erläutert die Definition einer Parallelprojektion, wie sie hier für alle Abbildungen verwendet wird.

Literatur

Die erste Anregung für dieses Projekt waren Bilder im Lehrbuch 'Lineare Algebra und Analytische Geometrie I' von Egbert Brieskorn (Vieweg 1983).
Hintergrundwissen zu Platon und Archimedes liefert zum Beispiel die University of St. Andrews, Schottland.

Future Release

  1. Einige Bastelbögen müssen noch ausprobiert und optimiert werden.
  2. Die Darstellung der Körper kann plastischer werden:
    1. mehrere (farbige?) Lichtquellen, die für unterschiedliche Farbe und Helligkeit der einzelnen Facetten sorgen.
    2. Unterscheidung verschiedener Körper, wenn sie in ein gemeinsames Bild gezeichnet werden: Linienstärke, Farbe.

[E-Mail]  aktualisiert am: 24.10.2007;  ©2007 Klaus Bernt, Uni Augsburg